Projekt Ikarus


Rede zur Ausstellung
Projekt Ikarus – Zeichnungen und Collagen
Stadtmuseum Gunzenhausen 2004

Ikarus – der Traum vom Fliegen
Ikarus – die Sehnsucht nach Freiheit
Ikarus – der Absturz ins Nichts
Projekt Ikarus – eine offene Fragestellung

Mehr denn je werden heute mit dem Begriff Ikarus die verschiedensten Vorstellungen und Ideenwelten assoziiert. Gibt man der Internetsuchmaschine Google – selbst ein Überflieger des Internetzeitalters – den Suchbegriff Ikarus ein, erzielt man eine Trefferquote von rund 300.000 Einträgen. Erstaunlicherweise deckt dieses Ergebnis, auf den ersten Blick, eine Reihe von unvereinbaren Vorstellungen ab, angefangen von Jugendprogrammen, Softwarefirmen, Reiseagenturen, aber auch, wie zu erwarten, jegliche Art von Fluggeräten.
Ich hoffe, Sie verzeihen mir diesen kleinen Ausflug bevor ich zum Thema meiner heutigen Ausstellung zurückkomme. Was ich damit sagen will, ist leicht zu erklären: auch hier überlagern sich eine Vielzahl von Entstehungsprozessen, Arbeitsphasen, Mal- und Arbeitstechniken, Vorstellungen und Entwicklungen. Doch zurück zum Anfang und der Reihe nach. Ziel meiner Ausführungen kann und soll es nicht sein, Ihnen ein hermetisch geschlossenes Gedankengebäude vorzustellen, andererseits ist es manchmal hilfreich Wind unter die Flügel zu bekommen um dann mit eigener Kraft und Imagination weiterzufliegen.

Das Projekt Ikarus ist gedanklich aus einem Portraitzyklus in schwarzweißer Acrylfarbe mit dem Titel „Antlitz biomorph“ und einer Installation mit drei von schwarzem Stoff umwickelten Holzkreuzen in einem blauen Kubus mit dem Titel „Grenzfall“ hervorgegangen. Das Gesicht als Ausdruck eines Seelenzustandes, einer inneren Befindlichkeit, trifft auf einen Kubus, der die Frage nach dem Raum aufwirft, in dem sich der Mensch bewegt, gleichzeitig nach den Begrenzungen menschlichen Handelns in einem Raum, der als solcher ambivalent ist, damit Überschreitungen programmiert und provoziert. Der Traum, den Begrenzungen der Realität zu entfliehen, hat nie aufgehört zu existieren.

„Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt“ sagt Friedrich Nietzsche. Nach Ovid habe Ikarus „die Sehnsucht nach dem Himmel“ gepackt. Als konkretes Sinnbild und Metapher zeigt Ikarus, oder besser der Mythos Ikarus, diese grundsätzlichen Möglichkeiten menschlichen Strebens. Die Lust am Risiko, an der Erforschung von Neuem, am Sprengen von Grenzen, die Lust an der Eroberung des Raumes in all seinen Formen, bis hin zum Ausleben der eigenen Möglichkeiten, zum Rausch der Sinne, dem Exhibitionismus der eigenen Person, steht neben der Hybris, die in den Absturz mündet. Wird diese Sehnsucht nach Transzendenz, nach Überschreitung zum Sündenfall? Vielleicht. Dennoch, jedes Scheitern beinhaltet einen Neuanfang, gleich Sisyphus versucht Ikarus als Archetypus sich stets aufs Neue von seinen Beschränkungen zu lösen, die Suche nach Utopia geht weiter.

In den Arbeiten des ersten Ikarus-Zyklus ordnet sich die Mischtechnik bzw. die Collage als stilgebendes Strukturelement, die Kombination aus vorgefundenen Versatzstücken, kompositorischen Notwendigkeiten und der Einsatz bildnerischer Mittel und Schriftzeichen diesem Anliegen in einem neuen, neu zu dechiffrierenden Textgewebe unter.

Das Projekt Ikarus II reduziert den dreidimensionalen Raum, der Raum verlagert sich ins Innere, erscheint als gedanklicher Raum. Die Dominanz des Denkens meint an der Oberfläche einen Rückzug in einen geschlossenen Bereich, öffnet andererseits neue Wege. Die Vision einer neuen Dimension scheint eine Loslösung von materiellen Gesetzen und Grenzen zu ermöglichen. Diese „Ikonographie der Schwerelosigkeit“ macht den Weg in einen un-eroberten Raum frei. Das Hervortreten des Kopfes, seine scheinbare Starre und Unbeweglichkeit steht für diesen anderen Ansatz.

Im Gegensatz dazu steht das Projekt Ikarus III mit dem Titel „Zeit geschichtet“. Die Verwendung ganz unterschiedlicher Mittel, eine Mischung aus Schriften aus napoleonischer Zeit, Bruchstücke eigener Farbstudien und Zeichnungen, dem Spiel mit zeitlosen Elementen und Vorstellungen, das Ganze mit Hilfe des Computers (Scanner) übereinander geblendet, erschafft eine neue Landschaft. Die Farbe ist aus diesem Raum weitgehend verschwunden, Grautöne dominieren, dennoch bilden sich aus den Versatzstücken Erinnerungen an oft Gesehenes, Bekanntes – ein Kosmos eigener Art und Prägung entsteht, scheinbar menschenleer.

Ikarus scheint zu diesem Faksimile der Welt auf Distanz gegangen zu sein, die Frage bleibt ob der Mythos seine Berechtigung verloren hat. Hat Ikarus den Raum unsichtbar in Besitz genommen oder hat er sich aus der Fremdheit, dem Labyrinth dieser Welt schon weit entfernt, ist ihm der Flug zur Sonne gelungen? Auch für mich als Künstler bleibt Ikarus als Metapher des Fliegens von zentraler Bedeutung. Der freie Flug der Gedanken und der Kreativität wird stets aufs Neue bedroht vom Absturz in die Kämpfe des Alltags. Die Sehnsucht nach Freiheit und gleichzeitiger Verankerung auf festem Grund ist ein nicht aufzulösender Zwiespalt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, dass ich Ihrer Fantasie Flügel verleihen konnte und hoffe gleichzeitig, dass Sie nach einer glücklichen Landung sicheren Boden unter den Füßen finden.

Margit Schuler

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